Es war ein Mittwoch und ich
wollte vom ICE-Bahnhof aus rechts abbiegen, als ich ein Martinshorn hörte und
stoppte. Von Lindenholzhausen kam mit hoher Geschwindigkeit ein dunkler VW-Bus,
mit vollem Konzert und einem Blaulichtbalken auf dem Armaturenbrett.
Ein solches Fahrzeug findet sich soweit
ich weiß nicht im Fuhrpark der Limburger Polizeistation. Die Eile und die
Richtung, aus der die Beamten kamen, sagten mir zweierlei. Es war etwas
passiert. Und es war schlimm. Wirklich schlimm.
Zu Hause angekommen, bestätigte
eine schnelle Recherche im Netz meine Befürchtungen. Ein Todesopfer durch einen
Geisterfahrer auf der „Meil“ war zu beklagen. Doch was an Nachrichten kurz
darauf folgte, war noch viel übler. Der Verursacher wurde von der Polizei
angehalten und floh, entgegen der Fahrtrichtung. Und eine junge Frau musste deswegen
sterben.
Mord? |
Ich habe vier Kinder und das
Schlimmste, was ich mir vorstellen kann, ist es, eins davon zu verlieren. Es
sagt sich immer so leicht, dass die Gedanken bei der Familie, den Freunden und
allen anderen Hinterbliebenen sind. Bei mir war sie es wirklich und sie ließen
sich nicht leicht verdrängen, so sehr ich mich auch bemühte. Ich kenne diese
Nächte leider aus eigenem Erleben. Nächte in denen man sich mit allem gegen das
wehrt, was geschehen ist und es nicht wahr haben will. Doch man kann nur hilf-
und fassungslos da sitzen und darauf warten, dass die Sonne vielleicht doch
noch einmal aufgeht. Über einer Welt, in der nun ein Mensch für immer fehlen
wird.
Ich dachte in dieser Nacht auch an
andere. Wie würden sich die Polizisten fühlen, die beteiligt waren? Würden
nicht auch sie immer wieder von vorne anfangen, mit denselben Gedanken? Was
wäre gewesen, wenn? Hätten wir das verhindern können? Haben wir etwas falsch
gemacht? Mussten wir damit rechnen, dass der Routineeinsatz in eine solche
Katastrophe führen würde?
Der nächste Tag brachte neue
Erkenntnisse, die all das Geschehen noch schlimmer machten. Viel, viel
schlimmer. Ein Mann, der wegen exakt solcher Delikte im Gefängnis saß, hatte
während eines Hafturlaubs genau dort weitergemacht, wo er aufgehört hatte. Er war
ohne Führerschein und mit gestohlenen Kennzeichen zum Rasen gefahren.
„Mord“, war mein Gedanke.
Was er getan hatte, trug für mich
alle Merkmale dieses Tatbestands. Doch resigniert dachte ich, dass am Ende
vielleicht wieder einmal eine fahrlässige Tötung dabei herauskommen würde. Wenn
überhaupt. Die mit Reststrafen aus anderen Taten zusammengelegt und mit einem
ordentlichen Rabatt versehen dafür sorgen würde, dass der Täter bald wieder
unter uns wäre. Und uns alle bedrohen würde. Mich genau so wie meine Kinder.
Doch es geschah ein Wunder in der
Bischofsstadt. Die Staatsanwaltschaft teilte meine Meinung! Sie ermittelte
tatsächlich wegen Mordverdachts gegen den Geisterfahrer. Angeblich hatte dieser
angekündigt, genau so zu handeln, sollte ihn die Polizei noch einmal erwischen.
Die Ermittlungen haben nun ein Ende. Die
Presse meldet fälschlicherweise, dass Anklage wegen Mordes gegen den
(mutmaßlichen, jaja…) Verbrecher erhoben wird. Wie mich ein freundlicher
Kollege (ich bezeichne den betreffenden, freien Reporter jetzt einfach mal als
solchen, auch wenn er mir selbst den Status eines Journalisten nicht zubilligt)
hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass die Staatsanwaltschaft bis jetzt
lediglich die Eröffnung des Hauptverfahrens wegen Mordes beantragt hat. Ob dem stattgegeben und die Anklage zugelassen wird,
muss nun das Gericht entscheiden.
Es bleibt abzuwarten, was
geschehen wird.
Was mich aber immer wieder
beschäftigt sind Fragen. Fragen, die einfach nicht gestellt werden, obwohl sie
doch so naheliegend sind. Für mich zumindest. Dabei sind sie meiner Meinung
nach für die vollständige Aufklärung und insbesondere das Nachvollziehen von
Verantwortlichkeiten zentral.
Kleine Presseschau: Bundesweites Aufsehen |
Bis jemand wegen Verkehrsdelikten
wie Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt
wird, muss er genau dieses Delikt zigmal verübt und den Langmut auch des verständnisvollsten
Richters bis zum Zerreißen strapaziert haben. Bei dem Täter war das der Fall. Aber
obwohl er damit erwiesenermaßen eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellte,
erhielt er Hafturlaub.
Wer hat diesen genehmigt?
Wie sollte sichergestellt werden,
dass er nicht umgehend wieder hinter dem Steuer eines Autos sitzt?
Gab es psychologische Gutachten?
Sozialprognosen? Und falls ja, wie falsch durften diese sein?
Hat ihn während seines
Hafturlaubs jemals irgendjemand überraschend besucht um zu sehen, was er so
treibt?
Nichts davon wurde jemals
erörtert. Und die Fragen gehen noch weiter.
Wieso war ein Mann mit einer
solchen Strafe noch Eigentümer eines Autos?! Warum wurde dieses als Tatwerkzeug
seiner vorherigen Vergehen nicht eingezogen?
Wer wusste davon, dass der
spätere, mutmaßliche Mörder diesen Passat besaß? Wo war das Auto geparkt? Wer
hat die Schlüssel verwahrt und wie ist der Täter an sie gelangt? Hat sie ihm
jemand gegeben? Hat jemand gesehen, dass er mit diesem Wagen gefahren ist? War
es vielleicht nicht das erste Mal?
Je tiefer man gräbt, desto
weniger Antworten findet man.
Der Wagen fiel der Streife auf,
weil er Kennzeichen trug, die als gestohlen gemeldet und in der Fahndung waren.
Seit mehr als einem VIERTELJAHR!
Wie war es möglich, dass ein
bekannter Straftäter einen nicht zugelassenen Wagen besaß, an dem gestohlene
Kennzeichen befestigt waren? Und offenbar bei jedem Hafturlaub mit diesem Auto in
der Gegend herum raste, ohne dass IRGENDJEMANDEM das auch nur ein einziges Mal auffiel?
Die Ermittlungen der
Staatsanwaltschaft im Umfeld des (mutmaßlichen, jaja…) Täters haben erst dazu
geführt, den Mordverdacht in Betracht zu ziehen.
Das wirft für mich aber eine ganz
zentrale Frage auf: Wer wusste was?
Kann man wirklich so tun, als sei
jemand in der Lage, völlig unbemerkt solch ein Verhalten an den Tag zu legen?
Ist nicht eher zu vermuten, dass der für genau diese Taten Verurteilte über
einen gleichgesinnten Freundeskreis verfügt, der bestens Bescheid wusste, was
er bei jedem Hafturlaub trieb? Einen Freundeskreis, der sich vielleicht mit ihm
gemeinsam über die blinde und dämliche Justiz und Polizei mokierte, die überhaupt
nichts mitbekam?
Es gibt keine Pflicht, ein
Verbrechen zu melden, das einem bekannt wird.
Aber wer eine GEPLANTE Tat, von
der er Kenntnis erhält, nicht anzeigt, macht sich strafbar.
Und von dort zur Beihilfe ist es
nur ein ganz kleiner Schritt.